Vom Luxus der Entscheidungsfreiheit

von root

Ein Sprichwort besagt: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Es meint, dass der Mensch für sein eigenes Glück und seinen Erfolg im Leben selbst verantwortlich ist und sich nicht auf Zufall oder Hilfe von außen verlassen sollte. Es ermutigt dazu, aktiv zu handeln und sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten, anstatt passiv auf (äußere) Umstände zu warten. Es läßt jedoch außer Acht, daß es auch soziale, kulturelle oder systemische Rahmenbedingungen gibt, auf die der Einzelne keinen – oder nur bedingt – Einfluß hat. Aber zu dieser Redewendung später zurück.

Wir werden oft gefragt: Wie sieht Eure weitere Route aus? Wie lange wollt Ihr noch im Land XY bleiben? Wann wollt Ihr nach Südamerika verschiffen? Und ebenso oft ist es schwer für uns, eine genaue Antwort zu geben. Waren Route und Zeitrahmen während unserer Europa Tour noch klar(er), verschwimmt es mit Übersetzen nach Nordamerika immer mehr. Hatten wir am Anfang noch relativ konkrete Vorstellungen, wie lange wir wo bleiben wollten und wie die Route aussehen sollte, so wurde dies mit den letzten Monaten bzw. 2 Jahren immer schwammiger. Eigentlich genauso, wie das Leben früher „zuhause“: Man weiß grob, was man wann (beruflich) machen will, oder wann man wohin in Urlaub fahren möchte, und seine Lebensziele in naher Zukunft hat man auch (relativ) gut im Blick. Aber dann wird es schon diffuser und es ist – und war – immer gut, flexibel und offen für Neues zu sein.

Diese Flexibilität (in der Entscheidung) haben wir in den letzten paar Monaten stark ausgereizt, und angefangen hatte es, als irgendwann irgendwie eine gefühlte Schwelle überschritten war, daß wir mal wieder mit Patsha in eine Werkstatt mußten. Der Frust war hoch, die Unsicherheit, wie man notfalls Ersatzteile nach Mexiko importieren könnte, ebenso. Dazu saß noch das Erlebnis des Unfalles in Guatemala, als uns ein LKW gerammt hatte, tief. So stand irgendwann plötzlich der Entschluß im Raum: Wir verschiffen zurück nach Deutschland, um Patsha dort reparieren zu lassen. Und ja, wir wollen und werden auch weiterreisen, d.h. die Idee war, nach erfolgreicher Reparatur von Deutschland aus weiter nach Südamerika zu verschiffen. Evtl. nach Montevideo in Uruguay. Erste Absprachen mit Freunden und Partnern in Deutschland wurden getroffen; die Verschiffung für Mitte August gebucht, nachdem für uns klar war, daß es sicherer ist, nach Bremerhaven, als nach Antwerpen zu verschiffen (die Route nach Antwerpen enthält Anlandungen auf karibischen Inseln, von denen man uns aufgrund Einbruchgefahr abgeraten hat). Und diese Entscheidung fühlte sich gut an, denn bei den hohen, zusätzlichen Kosten für diesen „Umweg“ ist dies alles andere als eine reine Vernunftsentscheidung. So zogen wir weiter durch Mexiko und erlebten schöne Momente auf der Dschungelroute.

Doch mit jedem weiteren Tag klopfte die Vernunft an die Tür: 10.000 € mehr, für diesen Verschiffungsumweg? Und die im Vergleich zu Mexiko erwarteten, höheren Reparaturkosten in Deutschland kommen ja auch noch hinzu, sowie unsere Flug- und Unterkunftskosten. Kriegen wir dies nicht wirklich in Mexiko hin? Zum Beispiel nässt unsere Ölwanne – dachten wir zumindest seit vielen Monaten. Aber eigentlich „nässt“ die Einspritzpumpe, an der Anbindung zum Motor, und das Öl verteilt sich langsam aber sicher bis über die Ölwanne hinunter. Vielleicht kommt zusätzlich noch eine dortige Leckage hinzu, aber unterscheiden können wir dies aktuell so nicht. Und an die Neuanbindung der Einspritzpumpe traut sich derweil keiner ran und der Plan war gewesen, dies bei Bosch in Deutschland machen zu lassen. Nach Rücksprache mit der zuständigen Stelle haben wir jedoch einen Tipp bekommen, was wir selber prüfen könnten, und wenn es nur so leicht nässt, sollte es kein Problem sein… Da wären wir auch wieder bei dem Punkt: Unterschiedliche Risikobewertung von uns und anderen, die fachlich definitiv versierter sind.

Unsere Liste mit Reparaturen und Änderungen – 1/3 davon für uns ein wirkliches Muss, die anderen „nice to have“ – wuchs inzwischen auf 60 Punkte an. Wir wußten, daß wir eine Reparatur in Deutschland aus terminlichen Gründen erst im Frühjahr ´26 machen lassen können, und hatten als Idee, den bevorstehenden Winter in Marokko zu verbringen. Da unsere Auslandskrankenkasse nur 6 Wochen Heimaturlaub inkludiert, wäre ein Aufenthalt in Deutschland begrenzt gewesen. Tja, aber wenn Patsha im aktuellen Zustand in Marokko fahren kann oder muß, dann doch auch in Mexiko, oder? Wir waren dennoch unsicher geworden, da ein zusätzliches Problem hinzukam: Ein deutliches Quietschgeräusch am Riemen, welcher eigentlich straff genug war und uns daher vermuten ließ, daß evtl. doch etwas mit unserer Lenkhilfpumpe nicht stimmen könnte. Unsere Gedanken wirbelten durcheinander. Dennoch: Unsere Entscheidung, zu verschiffen, kippte, und da wir bis zu einem Stichtag X noch kostenlos stornieren konnten, haben wir diese gecancelt. Zu diesem Zeitpunkt war der Verschiffungstermin von Seiten der Reederei auch bereits um 2 Wochen verschoben worden, auf Anfang September. Der Wunsch jedoch, unsere Familien in Deutschland wiederzusehen, blieb bestehen. 2 1/2 Jahre hatten wir sie maximal per Videocall gesehen und gehört. So haben wir stattdessen nur einen Flug für uns nach Deutschland gebucht und den Aufenthalt organisiert, denn es standen diverse Orga-Termine an, so z.B. die Verlängerung des „großen“ LKW-Führerscheines (C, CE). Patsha sollte derweil gut untergebracht sein, was für uns sehr wichtig ist, denn es ist unser Zuhause. Und bis wir wußten, wo und wie wir unterstellen… da vergingen auch noch einmal viele Tage und Gespräche, denn nicht alle Möglichkeiten liegen klimatisch günstig bzw. in der Nähe eines Flughafens.

Es ist ein großer Luxus, diese Entscheidungsfreiheit zu haben. Gleichzeitig bedeutete sie natürlich einiges an Auf und Ab, Hin und Her, und nicht alles war einfach, von Mexiko aus zu organisieren. Auch bedeutete dies natürlich Flexibilität und Verständnis bei denjenigen, die wir besuchen wollten, denn ein ums andere Mal haben wir die Termine – vorab und auch noch während unseres aktuellen Deutschland-Besuches – verschoben. Dafür sind wir allen sehr dankbar, denn wir erachten dieses als nicht selbstverständlich. Unsere letztendlich getroffene Entscheidung hat zwar einen hohen „Vernunftsanteil“, birgt aber auch das Risiko, daß wir für die mögliche Reparatur im Herbst Fzg.-Teile in Mexiko benötigen, die wir nicht an Bord haben. Wir sind immer noch dabei, für uns Klarheit zu gewinnen: Ob wir nach einer Reparatur in Mexiko von dort nach Südamerika verschiffen. Ob nach Argentinien oder doch nach Kolumbien, ist für uns ebenfalls noch offen… Oder, ob wir nach unserem Rückflug nach Mexiko doch eher – mitsamt Patsha – nach Deutschland bzw. Europa zurückkehren. Es gibt viele Pros & Cons für sämtliche Varianten…

Und was hat dies jetzt mit der Redewendung vom Anfang zu tun? Wir sind eigenverantwortlich für unser Leben und genießen den Luxus der Entscheidungsfreiheit, die oft auch (gefühlt) viel größer ist, als früher. Wir sind aktiv im Gestalten unseres Lebens, mehr denn je; wir sind flexibel und warten nicht darauf, daß jemand uns eine „Lösung“ präsentiert. Aber auch wir haben nicht alles in der Hand; wir müssen den Spagat zwischen Reisen und Stillstand, zwischen sozialem, kulturellem Angepaßtsein und eigenen Werten finden. Wir müssen bzw. möchten Risiken beachten – z.B. hinsichtlich einer bestimmten Verschiffungsroute -, die bei normalen Urlaubsreisen irrelevant sind. Auch müssen wir auf Kosten achten, gleichzeitig sind unsere Wünsche – bzw. auch nur Notwendiges – groß. Und ob wir benötigte Ersatzteile nach Mexiko importiert bekommen werden, liegt nicht alleinig in unserer Hand.

Wahrscheinlich sind wir inzwischen mehr LKW Mechaniker, als Schmied. 😉

(Musik von: https://www.musicfox.com/).

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